Freitag, 9. Juli 2010

Tag 12 - Glasgow

20.5.
Start: 7 Uhr/10 Uhr
Ende: 24 Uhr
Wetter: Heiter

Mein Gott, wie furchtbar kann ein Frühstück eigentlich sein? Eine rhetorische Frage, nach heute Morgen. Die Leute hungern zu lassen wäre demgegenüber eine Wohltat. Grausiges Wasser, grausiges Brot, grausige Menschen. Herrliche Butter, aber grausiger Orangensaft. Widerlich. Kurz huscht mir der Gedanke durch den Kopf, H.s Pizzareste zu essen, aber aus Angst vor seinen großen Händen verjage ich ihn ganz schnell wieder.

H. jammert ebenso, der Kaffee sei eine Marter gewesen. Leicht ferngesteuert beginnt er daher unseren Stadtspaziergang. Er will zum Hafen. Zum Turm. Zum Hochhaus. Zum Weg. Ach zum Teufel. Er wechselt seine Meinung so schnell wie sonst nichts an seinem Körper. Mit Abstand nicht. Seine Orientierungslosigkeit verlangt nach Führung und Unterstützung, beides keine Eigenschaften, mit denen ich derzeit dienen kann. Eher schnell weglaufen und hoffen, dass H. nicht hinterherkommt, ja, das scheint mir ein vernünftiger Plan zu sein. Aber die Muskeln, und die Sehnen, und die Knochen, man kann es getrost als körpereigene Verschwörung gegen den Freiheitsdrang nennen. Es zwickt, kracht, quietscht und gibt unvermutet nach. Besser doch Fortbewegung im Schritttempo.


Immer tiefer dringen wir in die Geheimnisse von Glasgow und die unbekannten Gegenden vor. Die Stadt entpuppt sich als weitaus weniger hässlich als erwartet. Die Häuser verdienen diesen Namen, ebenso die Straßen und Grünanlagen. Beinahe sehenswert. Unsere schlimmste Begegnung – im Sinne von schlimm für unser weiteres Fortkommen an diesem Tag – ist zweifelsfrei jene mit einem second hand Musik- und Filmladen. Überraschend viel Angebot für überraschend wenig Geld. Der Einkauf wird schon fast zum Wettlauf ums Prestige. H. kauft insbesondere Dinge, die er schon hat. „Weil ma kafft ja auch die Erinnerung mit“, gibt er von sich. Im Endeffekt stoppt uns die eigene Tragkraft davon, noch einige Zeit mehr in dem Geschäft zu verbringen.


Nächste Station: Ein Park. Und ein Eis für H. Im Seniorenstil verbringen wir einige erholsame Momente auf den Holzbänken und schauen den jungen strammen Schotten bei der Gartenarbeit zu. H. will sie zu gewagteren Posen ermuntern und winkt mit einem Zehn-Pfund-Schein. Ich würde gern im Boden versinken. Der ist aber leider asphaltiert.

Die friedliche Umgebung des Parks täuscht, urplötzlich finden wir uns in Todesgefahr wieder. Eine Art Eichhörnchen lauert uns am Wegesrand auf und zeigt keinerlei Anstalten, uns passieren zu lassen.

 
Seine Fänge sind riesig, wie Stoßzähne ragen sie aus dem blutverschmierten Maul; seine Pranken können einen Menschen problemlos in Stücke reißen, sein Schwanz peitschenartig jegliche Knochen zertrümmern. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. H. nimmt es gelassener: „Ja so a liabs Viech, gulligulligulli“ sagt er und nähert sich dem sicheren Verderben. „Ja so liab, mei gar nit scheu“. Ich raune ein „Renn“ zu H., der aber viel zu beschäftigt mit der Alptraumbestie ist, als dass er mir zuhören würde. Selig die geistig Schwachen. Ohne zu zögern nimmt er mir mein Eis weg und beginnt es an das Ungetüm zu verfüttern: „Gulligulligulli, ja guat isch des, ja guat“.


Ich kann nicht hinsehen. Dann: Stille.

Als ich die Augen wieder öffne ist das Monster nicht mehr zu sehen. H. blickt verliebt auf den LCD-Schirm seiner Kamera: „Ja guat hamma des wieder gmacht, a Meisterwerk nachm nächstn“. Ich gehe wortlos weiter. Nach leichten Orientierungsdifferenzen finden wir schließlich einen Weg aus dem wahrhaft labyrinthartigen Garten und erreichen wieder bewohntes Gebiet. Zumindest Häuser sind zu sehen, Menschen eher weniger.


H. bietet mir eine Million Euro für ein Jahr hinter einem Zaun, den wir passieren – ich überlege augenblicklich zu akzeptieren, da H. in seinem jetzigen Zustand niemals über den Zaun käme und meine Ruhe damit gesichert wäre. Noch bevor ich zusagen kann ändert er seinen Fokus jedoch auf „Muss aufs Klo“, mein Hoffnungsschimmer treibt damit traurig drein blickend auf einem wackeligen Floss den gelben Strom der Aussichtslosigkeit hinab. 

Wir schreiben nun schon Stunde acht der Tour durch Glasgow, langsam aber sicher sehne ich mich nach Abwechslung, Essen und Bier. Zumindest was das Essen angeht hat H. einen Plan. Muscheln sollen es sein, kiloweise Muscheln. Doch der Weg dorthin ist noch weit, ich kann ihn daher von einem Zwischenstopp in einem als Hauseingang getarnten Lokal überreden. Während wir Tee (mehr) und Kaffee (weniger) genießen beginnt ein netter älterer Mann neben uns, das Lokal zu vermessen. Eine Säge hat er auch dabei, und er zögert auch nicht, sie einzusetzen. Während ich noch überlege, ob er sich bereits seinen eigenen Sarg zimmert erkundigt sich H. nach der Bedürfnisanstalt. Er erhält einen Fingerzeig aus dem Lokal hinaus. Jaja, die ganze Welt ist ein Scheißhaus, nur bitte gerade da nicht, wo wir trinken und essen.

 
Gestärkt und motiviert beginnen wir den langen Weg zurück ins Zentrum, zur Muschelbar. Müßig, die Gegend zu beschreiben, sie besteht aus Häusern und jedes Haus aus Wänden, Fenstern und Dächern. Städtebauerisch eine Enttäuschung, aber zweckmäßig: zweifelsfrei. Der Muschelschuppen zeigt sich als durchaus gehobenes Lokal, gut erkennbar daran, dass nur kleine Bier ausgeschenkt werden. H. bekommt einen Kessel voller Muscheln, in welche er augenblicklich eintaucht. Für rund 20 Minuten höre und sehe ich nichts mehr von ihm, nur mehr undefinierbare Laute zwischen Freude und Dekadenz dringen an mein Ohr; und hin und wieder prallt eine Muschelschale gegen meine Stirn. Ich selbst erfreue mich an Tigerprawns auf irgendetwas Grünem.


Das Essen ist ermüdend, die Portionen waren im Gegensatz zu den Alkoholika doch groß. Aber wir haben alles aufgegessen. Mit stolz geschwellten Bäuchen gehen H. und ich zur einzigen Abendbeschäftigung, die Sinn macht: Kino. Schon wieder. Kurz entbrennt ein heftiger Streit zwischen uns: H. will Hannah Montana sehen, einen Kinderfilm über eine frühreife Disney-Schlampe. Ich wäre eher für das Hans-Hass-Gedächtnis-Portrait in 3D. Doch weil H. für den Weibstück-Film zu alt ist und meiner gar nicht aufgeführt wird sehen wir uns genötigt, einen Streifen mit Crowe und Affleck zu besuchen. State of play.

Erfreulicherweise spielt Crowe optisch einen Hanno Winder ohne Gitarre, was mir die ganzen 127 Minuten sehr versüßt. H. zwinkert seinerseits Ben Affleck bei jedem seiner Auftritte schnippisch zu. Sein verträumtes Gemüt belustigt mich und stimmt mich doch auch neidisch bis sehnsüchtig. Da ist kein Platz für graue Realität.

Die Dosis Alkohol zum Einschlafen holen wir uns anschließend im hoteleigenen Osmosis-Club. What a burner, um die Landessprache zu gebrauchen. Tolle Getränke und tolle Musik. H. ist ganz weg von den aufeinander folgenden Bling-Bling-RnB-Videos, wo fesche Frauen mit fettreichen Hinterteilen ihre mit Diamanten und Gold veredelten Körperteile perspektivisch wertvoll in die Kamera halten. Leider droht schon die Sperrstunde, als wir ankommen, wir müssen daher schnell trinken. Nach zwei Gläsern Hochprozentigem raunt mir H. verschwörerisch sein Geheimnis für großartige Fotos ins Ohr: Belichten, belichten, belichten. Ich schreibe eifrig mit.