Mittwoch, 3. November 2010

Tag 13 - Glasgow

21.5.
Start: 7 Uhr/10.15 Uhr
Ende: 24 Uhr
Wetter: bewölkt, Regen

Missmutig begrüßen wir den neuen Tag, da wir heute schon wissen, welches Frühstück uns erwartet. Aber Auslassen ist keine Option, man zahlt ja dafür. Also würgen wir hinunter, was unser Magen erbrechenslos akzeptiert. Viel ist es nicht, unter anderem eine braune Brühe, die als weißer Tee am Automaten angeschrieben war. H. besteht darauf, dass wir auf diese Erfahrung hin ein positives Getränkeerlebnis brauchen. Ich kann gar nicht dagegen argumentieren (wie von Natur aus nötig wäre), denn ich bin mit meiner Verdauung beschäftigt. Wie sich zeigt ist es manchmal auch gut, einfach den Mund zu halten und dem Führer zu folgen. Denn das Keks, das ich zum Tee im Maggie May erhalte, ist vorzüglich. Der Tee auch. Und die Musik: Ein Genuss, insbesondere, nachdem H. in der Nacht zu singen begonnen hatte.

Der heutige Tag steht unter dem Generalmotto Einkauf. Keep the system going. Wir treiben uns daher in verschiedenen Einkaufszentren herum, nur um festzustellen, dass diese ebenso nutzlos sind wie jene in der Heimat. Individueller Gassenverkauf, da findet man sein Heil. Doch wie bei allen Regeln gibt es auch hier eine Ausnahme, schwer ist der Kampf gegen DVD-Sonderangebote. Sämtliche Filme der Welt um 14,99 Pfund: Ich bin sprachlos und vermesse im Geiste die Dimensionen meines Handgepäcks. H. hält es für überteuert, während er nervös den nächsten rubber thing Spender sucht. Unnötig zu erwähnen, dass ihm mehrere Irn Bru Flaschen im Unterarm stecken.


In einer Seitengasse laufen wir einem Plattengeschäft über den Weg, welches auch zahlreiche Devotionalien anbietet. Hemden, T-Shirts, Hüte und Drogenkonsumationssgeräte. Beim Stöbern kommen wir mit dem Besitzer ins Gespräch, der seinerseits ein wandergewandter Zeitgenosse zu sein scheint. Die Diskussion endet zwangsläufig beim Anekdotenaustausch über den Umgang mit Midgets. Unser neuer Freund hat einen grimmigen Rat: Drown them all. Klingt vernünftig. Ob er die Mücken oder die Engländer meint bleibt allerdings unklar.

Aufgeklärt und um ein paar Kleidungsstücke reicher setzen wir unseren Spaziergang durch die Stadt fort. Wirklich viele brauchbare Geschäfte lassen sich jedoch nicht finden, was auch an unserem Zug zum Essen liegen mag. Der einsetzende strömende Regen ist da Ausrede genug, ein Pub aufzusuchen. Dieses von außen mehr als schmucklose Gebäude zeigt seine Klasse erst beim Weg zu den Toiletten, ist es doch verschachtelt wie ein überdimensionales Baumhaus aufgebaut. Da es Bier gibt ist die Qualität des Essens sekundär. Am Nebentisch vergnügen sich während unserer Gabelakrobatik zwei elegante und noble junge Damen, für die der Grundsatz „Kein Sex vor der Ehe“ zweifellos gilt. Zumindest, solange ‚Ehe’ als Synonym für „12. Geburtstag“ steht. Allzu dreckige Witze verkneife ich mir allerdings, da beide offenbar gute Freunde eines stiernackigen Muskelberges sind. Der letzte Lacher ist dennoch auf meiner Seite, da ich sie Stunden später beim Flyer-Verteilen wieder getroffen habe. Für einen wohlgemeinten Rat à la Karriere mit Lehre – oder mit Humboldt – reicht mein Englisch allerdings nicht.

H. ist schwer erschöpft vom Essen. „Schlafn“, säuselt er wankend vor sich hin. Ich drehe ihn in die richtige Himmelsrichtung und gebe ihm trittweise Schwung mit. Er findet sicher zum Hotel, seine Pizzareste riechen mittlerweile stark genug. Befreit von den Zwängen zwischenmenschlicher Rücksichtnahme flaniere, nein, hüpfe ich nun durch die Innenstadt von Glasgow. Bei jedem Sportgeschäft lacht mein Herz als Reminiszenz an den vor Tagen errungenen Triumph. Ich fühle mich wie ein Schmetterling. Umso härter treffen mich daher die unzähligen Tropfen an Regenwasser, die plötzlich vom Himmel zu stürzen beginnen. Ich schlage mich seitwärts in ein Lokal, das sich als Glücksfall erweist. Entspannte Musik, Zeitungen und auf meine Bestellung eines Tees erhalte ich einen eineinhalb Liter Krug desselben. Ich entscheide, hier zu bleiben, zumal ich den Kessel nicht gefüllt zurückgeben will. Man hat ja seinen Stolz.
 
Einige Artikel über den Spesenskandal im britischen Unterhaus und die Geschlechtsorgane von Katie Price später hat sich die Teekanne geleert und der Himmel aufgeklart. Ich bezahle (Notiz an mich selber, Geldtaschen ohne gutes Münzfach sind keine Geldtaschen, sondern wertloser – haha – Dreck) und spaziere gemütlich zurück zum Hotel. Dort treffe ich H. am Weg zur Rezeption, er will sein Flugticket gegen Münzen für den Fernseher verpfänden. Es kostet mich meine ganze Kraft, ihn zurück in den Aufzug zu stopfen. Ich überlege, sein infernalisches Geheul aufzunehmen, um es statt dem Biep der Mobilbox abzuspielen. Nie mehr Nachrichten in Abwesenheit. Ein geschäftsschädigender Gedanke zugegeben, aber auch ein Inbegriff von Freiheit in der vernetzten Welt.

Um H. wieder zu beruhigen gehe ich mit ihm auf eine Lokal- und Bandtour. Was dann folgt ist ein Panoptikum von Menschen, die noch gesunden Haarwuchs am ganzen Körper haben und auch musizieren können. Ich fühle mich fast ein wenig avantgardistisch, in den Kellern von Glasgow die kommende Musikelite der Welt das erste Mal zu hören. H. ist auch zufrieden, wiewohl er immer wieder kritische Kommentare über Tonleitern und Dur-Moll-Problematiken von sich gibt. Ich nicke bei diesen Gelegenheiten dann immer heftig und raune etwas von wegen „klassischer Fehltritt“ zurück; nichts hasse ich mehr als eigenes Unwissen.