Dienstag, 1. Februar 2011

Tag 15 - Von Edinburgh nach Innsbruck

23.5.
Start: 6.30 Uhr/8 Uhr
Ende: daheim
Wetter: bedeckt

 Das Ende ist nicht nur nah, das Ende ist da. Es ist beruhigend und betrübend zugleich, dass die Reise vorbei ist, erwarten uns daheim doch Arbeitsalltag, überteuertes Guiness und eine Justizministerin mit Brillenfetisch. Doch H. deutet tröstend auf die Kamera, und ich verstehe: Die Erinnerung stirbt nie.

Bevor wir allerdings alles melodramatisch ausklingen lassen können steht uns noch der Weg zum Flughafen bevor. Schlau und vorausschauend haben wir bereits am Vorabend die Sitzplätze im Shuttle-Auto erworben. Sie gehören jetzt uns und wir werden sie als Sondergepäck hoffentlich nach Österreich bringen können. Das schottische Wetter verabschiedet uns standesgemäß mit kalten Wind und vereinzelten Regentropfen. H. plündert alle rubber things, die er finden kann. Ich bin tief gerührt bei seinem Anblick, wie er die Packungen voller Zuckerzeugs auf seinen Armen balanciert ist auch eine Art Kunst.

Der Flug selbst – die Lufthansafrauen sind wieder zu streng angezogen und verteilen den gleichen Fraß – ist etwas turbulent. Es wackelt immer wieder, was mir den kalten Schweiß auf die Stirn treibt. „I han sagt, gemma zu Fuß“, brülle ich in H.s Richtung, und bekreuzige mich innerlich mehrmals. Er grinst nur, der Arm eines Gummiaffen ragt zwischen seinen Zähnen hervor. Er ist in ein Kohlehydratkoma gefallen. Mir bleibt nur, mich an den Armlehnen festzuklammern und innerlich die Diskussion mit mir zu führen, warum das Flugzeug nicht abstürzen wird. Hauptargument ist und bleibt, dass sich Merkel das im Wahlkampf nicht leisten kann.

Mit tauben Fingern steige ich in Frankfurt aus und breche erleichtert in der Schalterhalle zusammen. Wir leben, mein Gott wir leben. Was H. unterdessen macht erwähne ich nicht mehr, Redundanz bleibt Redundanz.

Man muss jedoch festhalten, dass es einer der härtesten Kulturbrüche generell ist, vom englischen Festland kommend das erste Mal wieder in Deutschland mit der Muttersprache konfrontiert zu werden. Ich würde allen hier am Flughafen gerne Tüten über den Kopf ziehen und sie aufs Rollfeld treiben, dann könnten sie gucken, wo sie denn blieben. Schnell werde ich beim Gedanken an die Kleinheit der uns noch erwartenden Tyrolean-Maschine jedoch innerlich still. H. nötigt mich zum weiteren Kartenspielen, er hat seine Chance erkannt. Und tatsächlich, Mal um Mal gewinnt er erneut, mein in Wochen erworbener Vorsprung beginnt zu schmelzen. Mehrmals pro Minute täusche ich die Sichtung eines Prominenten vor, nur um Zeit zu gewinnen.

Schließlich ist der da, der Moment der Wahrheit. Am Ende des Flughafens – in Wahrheit schon näher an München als an Frankfurt – besteigen wir die blaubäuchige Maschine, die uns in die Heimat bringen soll. Ich flehe die Stewardess an, mich im fensterlosen Frachtraum unterzubringen, so würde ich die Erde beim Absturz wenigstens nicht näher rasen sehen. Sie lächelt nur und drück mir eine Tiroler Tageszeitung in die Hand. Plötzlich fühle ich mich stark.

H. ist schon ungeduldig, er hat sich offenbar an die kulinarische Verwöhnung des Hinflugs erinnert. Und tatsächlich, kurz nach dem Abheben werden wir nicht enttäuscht, Essen und Bier lachen uns aus dem Cateringwagen entgegen. Dazu vertraute Dialektformen rundherum. Ich bin glücklich. Wenig später landen wir in Innsbruck, das Förderband gibt widerstandslos unsere Rucksäcke frei. H. und ich haben es geschafft: Die zweiwöchige Reise nach Hause ist vorbei.


Sonntag, 12. Dezember 2010

Tag 14 - Von Glasgow nach Edinburgh

22.5.
Start: 6.30 Uhr/ 9 Uhr
Ende: da wo es dann dunkel war
Wetter: Sehr hübsch

Einmal mehr heißt es Abschied nehmen, wir lassen Glasgow hinter uns und reisen zurück nach Edinburgh. Das Ende unserer Abenteuertour ist schon nahe, diese aber noch lange nicht vorbei. Denn H. hat eingedenk der Abwechslung und insbesondere in Ermangelung von Alternativen eine andere Schlafstätte gebucht, als jene in der Innenstadt. Und so bricht ein Abenteuer im Abenteuer an. Denn der hübsch bebilderte Ausdruck von der Anreise zum Hostel bringt uns leider keinen Meter näher an unser Bett. Minutenlang warten wir bei der angeblichen Abholstelle, an der ein Shuttle uns aufnehmen soll. Die Sekunden streichen vorbei, doch weit und breit nichts.

H. vertreibt sich die Zeit unterdessen damit, mit älteren Damen zu flirten. „Your English is very good“, höre ich eine der Ladies sagen. „Not only my English, harhar“, entgegnet H. wieselflink. Ich weiche in einen Eingang zurück und klammere mich an meinen Rucksack. „Es ist nirgends so schön wie zuhause, es ist nirgends so schön wie zuhause“, denke ich, doch nichts passiert. Meine Wanderschuhe sind wohl nicht rot genug. H. eilt telefonierend zu mir und meint mit einem Ausdruck des Triumphes: „Sie kemmen, sie kemmen – in dreißg Minuten.“ Ich klopfe ihm beglückwünschend auf die Schulter. Und tatsächlich, es treffen immer mehr Menschen ein, deren Rucksäcke eine ähnliche Reiseroute wie die unsere andeuten. Amerikaner, zweifelsohne. Ihre Aussprache ist derb, sie bohren mit Zahnstochern nach Öl im Asphalt und werfen kleine Atombomben auf arabisch aussehende Menschen. H. und ich halten uns neutral zurück.

Der Shuttle – ein Auto mit größerer Rückbank – trifft schließlich doch ein und bringt uns nach einigen Debatten über den Platz und die Opferung eines Fahrgastes in einer halben Stunde zur Unterkunft. Sie besteht aus einem einstöckigen Haus, welches in Mehrbettenzellen eingeteilt ist. H. und ich werden in ein Zimmer mit vier anderen Reisenden gepfercht, die Vorhänge vor der Schlafstatt sind da nur ein schwacher Trost. Wir brechen daher nach kurzer Gepäckeinlagerung umgehend wieder Richtung Innenstadt auf.

Hinter dem Haus entdecken wir wider Erwarten einen Zugang zum Meer mit herrlichem Panorama. Über einen sanften Abhang hinab kommen wir zu einer Promenade, die direkt unter der Einflugschneise des Flughafens liegt. H. muss gleich alles fotografieren. Mit geschicktem Vor-und-Zurück-Gehen locke ich ihn langsam weg von seinen selbst proklamierten Traum-Motiven und in Richtung öffentlicher Verkehr. Wir umkreisen einen Golfplatz und erreichen wenig später eine Bushaltestelle. Doch der Fahrer weigert sich, uns mitzunehmen. Was ich als grundsätzliche Ablehnung unserer Gestalten noch verstehen würde entpuppt sich als Anspruch, dass nur das genaue Fahrgeld akzeptiert werde. Scheiß Faschisten, blöde bornierte Arschlöcher, obszöne Öffi-Wixer – ich kann mich kaum beruhigen.

Schimpfend müssen wir weiter zu Fuß gehen, bis wir eine alternative Station finden. Dort gibt es dafür ein Eis, das ich mir nun auch nicht entgehen lasse. Es kühlt meinen Blutdruck, selbst wenn ich H. mit einer Hand von Übergriffen auf mich abhalten muss. Die Fahrt in die Stadt dient uns als Zeit für eine Diskussion über die Überwachung im Bus. Scheinheilige Argumente versuchen von einem Plakat herunter die gezählten fünf Kameras zu rechtfertigen. Die einzig akzeptable Aussage – „Wir wollen euch in den Ausschnitt starren, und das in Zeitlupe“ – findet sich darunter nicht. Doch auf unsere kritische Ansprache reagiert das Plakat im Bus leider nicht. Gesprächsverweigerung pur.

Nun hegen wir beide einen Groll, der sich nur mit Essen besänftigen lässt. Wir finden die Erlösung bei einem kleinen Italiener, der uns auch in Form des Kellners wieder von den guten Eigenschaften der Menschen überzeugt. Er raspelt sogar persönlich Parmesam über H.s Muscheln. Die Tränen der Rührung sind nahe. Zurückgelehnt fühlen wir uns beide erstmals seit Wochen wieder richtig entspannt. Ein kleines Stückchen Himmel mitten in der Hektik von Edinburgh.

Nach dieser Erfahrung voller Glück haben H. und ich Angst, durch sämtliche andere Aktivitäten diesen Eindruck nachhaltig zu beschädigen. Einzig die Natur der schottischen Hauptstadt hält noch eine Herausforderung für uns bereit. Wir müssen den Hügel in ihrer Mitte besteigen. Die Gene zwingen uns. Eilenden Schrittes begeben wir uns daher an den Fuß der bergigen Spitze, die doch einige Meter größer ist als wir beide zusammen, und auch als der Sprungturm im Tivoli zu Innsbruck

Der Anstieg ist zwar steil, aber gut präpariert. H. kommt ohne zu Hilfenahme der Hände weiter, ich selbst fühle mich fast wie auf einer Rolltreppe. Der Ausblick von der Spitze ist dann doch ein lohnender Abschluss unserer Wanderaktivitäten. In Ermangelung anderer Erhebungen breitet sich rundum das schottische Land vor uns aus. Erhaben, das ist das stärkste Gefühl, das man hier empfindet. H. hat allerdings keine Zeit dafür, muss er doch eine Dame mustern, die eine vermeintlich bessere Kamera als er selbst auf den Hügel geschleppt hat. Größer ist sie in jedem Fall, wie mein fachmännischer Blick gleich erfasst. Ich verhalte mir aber eine entsprechende Bemerkung und genieße den Ausblick.


Der Weg hinunter ist einmal mehr in etwa gleich lang wie der Weg hinauf. Wir brauchen etwas länger, da H. – ganz der Naturmensch – an den Blumen schnuppern möchte. Doch wenig später erreichen wir die Talsohle und sind beide befriedigt. Wir genehmigen uns noch derer Biere mehrere und spazieren zur Shuttle-Station zurück. Im Hostel selbst verbringen wir einen gemütlichen Abend, der seine Beschaulichkeit beim Zücken der Spielkarten jedoch verliert. Bis aufs Blut wird geschnapst, und ich bekomme von H. eine Niederlage nach der anderen zugefügt. Meine Flucht in billigen Fusel verschärft die Krise meiner Künste noch mehr. Schwer geschlagen trolle ich mich nach Stunden hinter meinen Schlafvorhang. H. rodet im Siegestaumel noch die Bäume im Garten und zündet sie an. Der Schriftzug „I ownz“ ist sicher auch aus dem Weltraum zu sehen.

Mittwoch, 3. November 2010

Tag 13 - Glasgow

21.5.
Start: 7 Uhr/10.15 Uhr
Ende: 24 Uhr
Wetter: bewölkt, Regen

Missmutig begrüßen wir den neuen Tag, da wir heute schon wissen, welches Frühstück uns erwartet. Aber Auslassen ist keine Option, man zahlt ja dafür. Also würgen wir hinunter, was unser Magen erbrechenslos akzeptiert. Viel ist es nicht, unter anderem eine braune Brühe, die als weißer Tee am Automaten angeschrieben war. H. besteht darauf, dass wir auf diese Erfahrung hin ein positives Getränkeerlebnis brauchen. Ich kann gar nicht dagegen argumentieren (wie von Natur aus nötig wäre), denn ich bin mit meiner Verdauung beschäftigt. Wie sich zeigt ist es manchmal auch gut, einfach den Mund zu halten und dem Führer zu folgen. Denn das Keks, das ich zum Tee im Maggie May erhalte, ist vorzüglich. Der Tee auch. Und die Musik: Ein Genuss, insbesondere, nachdem H. in der Nacht zu singen begonnen hatte.

Der heutige Tag steht unter dem Generalmotto Einkauf. Keep the system going. Wir treiben uns daher in verschiedenen Einkaufszentren herum, nur um festzustellen, dass diese ebenso nutzlos sind wie jene in der Heimat. Individueller Gassenverkauf, da findet man sein Heil. Doch wie bei allen Regeln gibt es auch hier eine Ausnahme, schwer ist der Kampf gegen DVD-Sonderangebote. Sämtliche Filme der Welt um 14,99 Pfund: Ich bin sprachlos und vermesse im Geiste die Dimensionen meines Handgepäcks. H. hält es für überteuert, während er nervös den nächsten rubber thing Spender sucht. Unnötig zu erwähnen, dass ihm mehrere Irn Bru Flaschen im Unterarm stecken.


In einer Seitengasse laufen wir einem Plattengeschäft über den Weg, welches auch zahlreiche Devotionalien anbietet. Hemden, T-Shirts, Hüte und Drogenkonsumationssgeräte. Beim Stöbern kommen wir mit dem Besitzer ins Gespräch, der seinerseits ein wandergewandter Zeitgenosse zu sein scheint. Die Diskussion endet zwangsläufig beim Anekdotenaustausch über den Umgang mit Midgets. Unser neuer Freund hat einen grimmigen Rat: Drown them all. Klingt vernünftig. Ob er die Mücken oder die Engländer meint bleibt allerdings unklar.

Aufgeklärt und um ein paar Kleidungsstücke reicher setzen wir unseren Spaziergang durch die Stadt fort. Wirklich viele brauchbare Geschäfte lassen sich jedoch nicht finden, was auch an unserem Zug zum Essen liegen mag. Der einsetzende strömende Regen ist da Ausrede genug, ein Pub aufzusuchen. Dieses von außen mehr als schmucklose Gebäude zeigt seine Klasse erst beim Weg zu den Toiletten, ist es doch verschachtelt wie ein überdimensionales Baumhaus aufgebaut. Da es Bier gibt ist die Qualität des Essens sekundär. Am Nebentisch vergnügen sich während unserer Gabelakrobatik zwei elegante und noble junge Damen, für die der Grundsatz „Kein Sex vor der Ehe“ zweifellos gilt. Zumindest, solange ‚Ehe’ als Synonym für „12. Geburtstag“ steht. Allzu dreckige Witze verkneife ich mir allerdings, da beide offenbar gute Freunde eines stiernackigen Muskelberges sind. Der letzte Lacher ist dennoch auf meiner Seite, da ich sie Stunden später beim Flyer-Verteilen wieder getroffen habe. Für einen wohlgemeinten Rat à la Karriere mit Lehre – oder mit Humboldt – reicht mein Englisch allerdings nicht.

H. ist schwer erschöpft vom Essen. „Schlafn“, säuselt er wankend vor sich hin. Ich drehe ihn in die richtige Himmelsrichtung und gebe ihm trittweise Schwung mit. Er findet sicher zum Hotel, seine Pizzareste riechen mittlerweile stark genug. Befreit von den Zwängen zwischenmenschlicher Rücksichtnahme flaniere, nein, hüpfe ich nun durch die Innenstadt von Glasgow. Bei jedem Sportgeschäft lacht mein Herz als Reminiszenz an den vor Tagen errungenen Triumph. Ich fühle mich wie ein Schmetterling. Umso härter treffen mich daher die unzähligen Tropfen an Regenwasser, die plötzlich vom Himmel zu stürzen beginnen. Ich schlage mich seitwärts in ein Lokal, das sich als Glücksfall erweist. Entspannte Musik, Zeitungen und auf meine Bestellung eines Tees erhalte ich einen eineinhalb Liter Krug desselben. Ich entscheide, hier zu bleiben, zumal ich den Kessel nicht gefüllt zurückgeben will. Man hat ja seinen Stolz.
 
Einige Artikel über den Spesenskandal im britischen Unterhaus und die Geschlechtsorgane von Katie Price später hat sich die Teekanne geleert und der Himmel aufgeklart. Ich bezahle (Notiz an mich selber, Geldtaschen ohne gutes Münzfach sind keine Geldtaschen, sondern wertloser – haha – Dreck) und spaziere gemütlich zurück zum Hotel. Dort treffe ich H. am Weg zur Rezeption, er will sein Flugticket gegen Münzen für den Fernseher verpfänden. Es kostet mich meine ganze Kraft, ihn zurück in den Aufzug zu stopfen. Ich überlege, sein infernalisches Geheul aufzunehmen, um es statt dem Biep der Mobilbox abzuspielen. Nie mehr Nachrichten in Abwesenheit. Ein geschäftsschädigender Gedanke zugegeben, aber auch ein Inbegriff von Freiheit in der vernetzten Welt.

Um H. wieder zu beruhigen gehe ich mit ihm auf eine Lokal- und Bandtour. Was dann folgt ist ein Panoptikum von Menschen, die noch gesunden Haarwuchs am ganzen Körper haben und auch musizieren können. Ich fühle mich fast ein wenig avantgardistisch, in den Kellern von Glasgow die kommende Musikelite der Welt das erste Mal zu hören. H. ist auch zufrieden, wiewohl er immer wieder kritische Kommentare über Tonleitern und Dur-Moll-Problematiken von sich gibt. Ich nicke bei diesen Gelegenheiten dann immer heftig und raune etwas von wegen „klassischer Fehltritt“ zurück; nichts hasse ich mehr als eigenes Unwissen.

Freitag, 9. Juli 2010

Tag 12 - Glasgow

20.5.
Start: 7 Uhr/10 Uhr
Ende: 24 Uhr
Wetter: Heiter

Mein Gott, wie furchtbar kann ein Frühstück eigentlich sein? Eine rhetorische Frage, nach heute Morgen. Die Leute hungern zu lassen wäre demgegenüber eine Wohltat. Grausiges Wasser, grausiges Brot, grausige Menschen. Herrliche Butter, aber grausiger Orangensaft. Widerlich. Kurz huscht mir der Gedanke durch den Kopf, H.s Pizzareste zu essen, aber aus Angst vor seinen großen Händen verjage ich ihn ganz schnell wieder.

H. jammert ebenso, der Kaffee sei eine Marter gewesen. Leicht ferngesteuert beginnt er daher unseren Stadtspaziergang. Er will zum Hafen. Zum Turm. Zum Hochhaus. Zum Weg. Ach zum Teufel. Er wechselt seine Meinung so schnell wie sonst nichts an seinem Körper. Mit Abstand nicht. Seine Orientierungslosigkeit verlangt nach Führung und Unterstützung, beides keine Eigenschaften, mit denen ich derzeit dienen kann. Eher schnell weglaufen und hoffen, dass H. nicht hinterherkommt, ja, das scheint mir ein vernünftiger Plan zu sein. Aber die Muskeln, und die Sehnen, und die Knochen, man kann es getrost als körpereigene Verschwörung gegen den Freiheitsdrang nennen. Es zwickt, kracht, quietscht und gibt unvermutet nach. Besser doch Fortbewegung im Schritttempo.


Immer tiefer dringen wir in die Geheimnisse von Glasgow und die unbekannten Gegenden vor. Die Stadt entpuppt sich als weitaus weniger hässlich als erwartet. Die Häuser verdienen diesen Namen, ebenso die Straßen und Grünanlagen. Beinahe sehenswert. Unsere schlimmste Begegnung – im Sinne von schlimm für unser weiteres Fortkommen an diesem Tag – ist zweifelsfrei jene mit einem second hand Musik- und Filmladen. Überraschend viel Angebot für überraschend wenig Geld. Der Einkauf wird schon fast zum Wettlauf ums Prestige. H. kauft insbesondere Dinge, die er schon hat. „Weil ma kafft ja auch die Erinnerung mit“, gibt er von sich. Im Endeffekt stoppt uns die eigene Tragkraft davon, noch einige Zeit mehr in dem Geschäft zu verbringen.


Nächste Station: Ein Park. Und ein Eis für H. Im Seniorenstil verbringen wir einige erholsame Momente auf den Holzbänken und schauen den jungen strammen Schotten bei der Gartenarbeit zu. H. will sie zu gewagteren Posen ermuntern und winkt mit einem Zehn-Pfund-Schein. Ich würde gern im Boden versinken. Der ist aber leider asphaltiert.

Die friedliche Umgebung des Parks täuscht, urplötzlich finden wir uns in Todesgefahr wieder. Eine Art Eichhörnchen lauert uns am Wegesrand auf und zeigt keinerlei Anstalten, uns passieren zu lassen.

 
Seine Fänge sind riesig, wie Stoßzähne ragen sie aus dem blutverschmierten Maul; seine Pranken können einen Menschen problemlos in Stücke reißen, sein Schwanz peitschenartig jegliche Knochen zertrümmern. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. H. nimmt es gelassener: „Ja so a liabs Viech, gulligulligulli“ sagt er und nähert sich dem sicheren Verderben. „Ja so liab, mei gar nit scheu“. Ich raune ein „Renn“ zu H., der aber viel zu beschäftigt mit der Alptraumbestie ist, als dass er mir zuhören würde. Selig die geistig Schwachen. Ohne zu zögern nimmt er mir mein Eis weg und beginnt es an das Ungetüm zu verfüttern: „Gulligulligulli, ja guat isch des, ja guat“.


Ich kann nicht hinsehen. Dann: Stille.

Als ich die Augen wieder öffne ist das Monster nicht mehr zu sehen. H. blickt verliebt auf den LCD-Schirm seiner Kamera: „Ja guat hamma des wieder gmacht, a Meisterwerk nachm nächstn“. Ich gehe wortlos weiter. Nach leichten Orientierungsdifferenzen finden wir schließlich einen Weg aus dem wahrhaft labyrinthartigen Garten und erreichen wieder bewohntes Gebiet. Zumindest Häuser sind zu sehen, Menschen eher weniger.


H. bietet mir eine Million Euro für ein Jahr hinter einem Zaun, den wir passieren – ich überlege augenblicklich zu akzeptieren, da H. in seinem jetzigen Zustand niemals über den Zaun käme und meine Ruhe damit gesichert wäre. Noch bevor ich zusagen kann ändert er seinen Fokus jedoch auf „Muss aufs Klo“, mein Hoffnungsschimmer treibt damit traurig drein blickend auf einem wackeligen Floss den gelben Strom der Aussichtslosigkeit hinab. 

Wir schreiben nun schon Stunde acht der Tour durch Glasgow, langsam aber sicher sehne ich mich nach Abwechslung, Essen und Bier. Zumindest was das Essen angeht hat H. einen Plan. Muscheln sollen es sein, kiloweise Muscheln. Doch der Weg dorthin ist noch weit, ich kann ihn daher von einem Zwischenstopp in einem als Hauseingang getarnten Lokal überreden. Während wir Tee (mehr) und Kaffee (weniger) genießen beginnt ein netter älterer Mann neben uns, das Lokal zu vermessen. Eine Säge hat er auch dabei, und er zögert auch nicht, sie einzusetzen. Während ich noch überlege, ob er sich bereits seinen eigenen Sarg zimmert erkundigt sich H. nach der Bedürfnisanstalt. Er erhält einen Fingerzeig aus dem Lokal hinaus. Jaja, die ganze Welt ist ein Scheißhaus, nur bitte gerade da nicht, wo wir trinken und essen.

 
Gestärkt und motiviert beginnen wir den langen Weg zurück ins Zentrum, zur Muschelbar. Müßig, die Gegend zu beschreiben, sie besteht aus Häusern und jedes Haus aus Wänden, Fenstern und Dächern. Städtebauerisch eine Enttäuschung, aber zweckmäßig: zweifelsfrei. Der Muschelschuppen zeigt sich als durchaus gehobenes Lokal, gut erkennbar daran, dass nur kleine Bier ausgeschenkt werden. H. bekommt einen Kessel voller Muscheln, in welche er augenblicklich eintaucht. Für rund 20 Minuten höre und sehe ich nichts mehr von ihm, nur mehr undefinierbare Laute zwischen Freude und Dekadenz dringen an mein Ohr; und hin und wieder prallt eine Muschelschale gegen meine Stirn. Ich selbst erfreue mich an Tigerprawns auf irgendetwas Grünem.


Das Essen ist ermüdend, die Portionen waren im Gegensatz zu den Alkoholika doch groß. Aber wir haben alles aufgegessen. Mit stolz geschwellten Bäuchen gehen H. und ich zur einzigen Abendbeschäftigung, die Sinn macht: Kino. Schon wieder. Kurz entbrennt ein heftiger Streit zwischen uns: H. will Hannah Montana sehen, einen Kinderfilm über eine frühreife Disney-Schlampe. Ich wäre eher für das Hans-Hass-Gedächtnis-Portrait in 3D. Doch weil H. für den Weibstück-Film zu alt ist und meiner gar nicht aufgeführt wird sehen wir uns genötigt, einen Streifen mit Crowe und Affleck zu besuchen. State of play.

Erfreulicherweise spielt Crowe optisch einen Hanno Winder ohne Gitarre, was mir die ganzen 127 Minuten sehr versüßt. H. zwinkert seinerseits Ben Affleck bei jedem seiner Auftritte schnippisch zu. Sein verträumtes Gemüt belustigt mich und stimmt mich doch auch neidisch bis sehnsüchtig. Da ist kein Platz für graue Realität.

Die Dosis Alkohol zum Einschlafen holen wir uns anschließend im hoteleigenen Osmosis-Club. What a burner, um die Landessprache zu gebrauchen. Tolle Getränke und tolle Musik. H. ist ganz weg von den aufeinander folgenden Bling-Bling-RnB-Videos, wo fesche Frauen mit fettreichen Hinterteilen ihre mit Diamanten und Gold veredelten Körperteile perspektivisch wertvoll in die Kamera halten. Leider droht schon die Sperrstunde, als wir ankommen, wir müssen daher schnell trinken. Nach zwei Gläsern Hochprozentigem raunt mir H. verschwörerisch sein Geheimnis für großartige Fotos ins Ohr: Belichten, belichten, belichten. Ich schreibe eifrig mit. 


Freitag, 25. Juni 2010

Tag 11 - Von Fort William nach Glasgow

19.5.
Start: 7 Uhr/11 Uhr
Ende: Finster war es
Wetter: bewölkt, etwas Regen

Unser geschätzter Busfahrer ist zurück und bringt uns in halsbrecherischem Tempo nach Glasgow, diese große fremde Stadt. H. zeigt sich ortskundig und führt mich in eine kleine schmucke Pension mit 13 Stockwerken und legebatterieartigen Zimmern. Endlich etwas Abwechslung. Der Fernseher ist zudem mit einem Münzschlitz versehen, was H. vor wirtschaftliche Grundsatzentscheidungen stellt: Glotze, Irn Bru oder rubber things. Die Weltwirtschaftskrise ist ein Klacks gegenüber den Einschnitten, die H. bevorstehen.

In allerlei blutigen Farben schildert H. die Gewalttätigkeit der zweitgrößten Stadt Schottlands. Er müsse mich behütetes Kind auf die Realität vorbereiten, immerhin rechne er damit, dass wir zwei- bis dreimal stündlich überfallen und beraubt würden. Ich schlage sogleich vor, einfach kein Geld mehr abzuheben und die Kreditkarten in den Clyde zu werfen – damit hätten die zweifelsfrei jugendlichen Täter keinerlei Erfolgsaussicht und wir quasi Dauerunterhaltung. H. verweist skeptisch darauf, dass auch in Glasgow der Kapitalismus herrscht und folglich Waren nur gegen Münzen oder Scheine den Besitzer wechseln. „Nur Bares ist Wahres“, sagt H. und deutet doppeldeutig auf seinen entblößten Bauch. Dreckig lachen tut er auch. Mir wird anders, nicht nur aus Systemkritik heraus.

Der Hunger treibt uns schließlich doch aus dem gut gesicherten Zimmer hinaus in die rohe Wildheit der Großstadt. Im Pizza-Hut, einem offensichtlichen schottischen Familienbetrieb, erlebe ich dann das Unvorstellbare. H. wird satt. Mehr noch, er kann die Riesenpizza mit zusätzlichem Käserand gar nicht ganz essen. „Burp“, das ist das einzige Wort, welches neben seinem Mageninhalt noch Platz im Körper findet. Dieses Datum muss ich notieren. Dass H. natürlich einen Karton verlangt hat, um seine restliche Pizza mitzunehmen versteht sich von selbst. Er baut ja zu allen seinen Speisen eine sehr persönliche Beziehung auf und gibt ihnen Namen. Meistens Franz und Kriemhild, seltener auch Antonio oder Rocky. Seine Nudelsuppe hat er neulich Sepp Pröll getauft.

Tragen will H. diesen kalorienschwangeren Karton freilich nicht, wir rennen daher – stets Deckung suchend – zurück ins Hotel. Essensreste verstauen. Ich nehme mir vor, diesen erbärmlichen Höhepunkt des Rundreiseprogramms nicht zu notieren, kann dann aber der Pflicht des Chronisten nicht widerstehen.

Ich kann H., der schon nach Münzen für den Fernseher in seinem Portemonnaie sucht, mühsam doch davon überzeugen, nochmals das Haus zu verlassen. „S’isch ja erscht halbe sechse“, so mein schlagendes Argument. H. stimmt zu und will einmal mehr seine Ortskenntnis demonstrieren: „Jetzat gemma da aussi und ummi und aui, und du wirsch sechn, do san koane Sportgschäftn nitta, gonz ondas ois in Fort William“. Nach gezählten fünf Sportfachboutiquen in ebenso vielen Minuten schmollt er. Ich heitere ihn mit Erzählungen vom Pizzarest im Hotelzimmer auf.

Um endlich eine Schmach der vergangenen Tage zu tilgen gehen wir ins Kino. Gezeigt wird Star Trek, der überallererste Teil. Sehr bunt, sehr laut, sehr zeitreiselastig, insgesamt also nichts Neues. Schottische Lichtspielhäuser sind innen ebenso wie unsere heimischen Kinos vor allem dunkel. Dafür laufen die Filme fast permanent im englischen Original, man muss also keine eigens nicht synchronisierte Vorstellung suchen. Jaja, fremde Länder, fremde…beginne ich zu denken, leider fällt mir kein passendes Wort mehr dazu ein. Also dann, live long and prosper, trotz der Pizza.

Wir trinken uns langsam aber stetig in Richtung Unterbringung retour, wobei die Angst vor Gewalttaten mit jedem Schluck schwindet. H. reckt sogar mehrmals drohend die Faust gen Himmel, als wollte er gleich die Götter herausfordern. Vielleicht juckt es ihn aber nur einmal mehr an dieser einen besonderen Stelle und er erbittet die Hand eines höheren Wesens, die ihn dort kratzen möge. Mysteriös.


Montag, 19. April 2010

Tag 10 - auf den Ben Nevis

18.5.
Start: 7 Uhr/8 Uhr
Ende: 14.30 Uhr
Wetter: Bewölkt, dann Regen

Die Tiroler Gene schlagen durch, wir müssen auf den Berg. Besser gesagt, auf DEN Berg. Ben Nevis, der höchste Hügel in ganz Großbritannien, der felsige Hauptgrund für Fort Williams Namenszusatz „Se outdoor capital…“. Tagelang haben H. und ich Karten studiert und Wegbeschreibungen verinnerlicht, damit unser Gipfelsturm durch Kleinigkeiten wie Orientierungslosigkeit nicht gestört werden kann. Zweifelsohne wird der Sieg über den Berg einer der Höhepunkte unserer Reise und damit auch der geplanten Volkshochschul-Diareihe. Doch diese meine Annahme war etwas verfrüht.

Denn kaum sind wir raus aus dem Haus und über die Hauptstraße, schon meldet sich H. bedrückt zu Wort. Er fürchte, dem Anstieg nicht gewachsen zu sein. Der von Krankheit geschwächte Körper schaffe maximal noch zehn Meter. Sein Vorschlag, gleich hier ein Basislager zu errichten und den vor uns liegenden Kreisverkehr erst morgen zu durchwandern lehne ich mit Verweis auf das unsichere Wetter ab. Also trennen wir uns. Ich geh auf den Berg, H. dem Wirt auf die Nerven.

Meinem Stolz Tribut zollend habe ich mich selbstverständlich dazu entschlossen, den Beginn des Anstieges per Fuß zu erreichen. Die wenigen Zentimeter auf der Karte entpuppen sich völlig überraschend als mehrere Kilometer Landstraße, die ich mich vollem Gepäck, Stöcken und Ungläubigkeit im Geiste abspulen muss. Wenigstens die idyllische Landschaft belohnt die wanderische Zusatzleistung, auch wenn ich keine Schafe mehr sehen kann. Ich ertappe mich dabei, mental bereits zurückzumähen und bin erleichtert, endlich den Pfad auf den Ben Nevis zu erreichen.

Steine. Viele Steine, Enorme Steinmengen. Steine soweit das Auge reicht. Der Weg ist nicht unbedingt mit Abwechslungsreichtum geschlagen, für Variationen sorgen nur die bunt gekleideten Touristen, die vor, hinter und neben mir aufsteigen. Mehr als einmal steht man vor der schwierigen Wahl, weiterzuschnaufen oder zu grüßen. Auf halber Höhe wechselt sowohl das Panorama als auch das Wetter. Die Steine sind nun rot, der Himmel nun finster und Regen setzt ein. H. fehlt mir, ich kann meine Boshaftigkeit an niemandem auslassen.

Ich gehe dennoch weiter und werde sogleich damit belohnt, zwei Straßenarbeiter samt Bagger mitten auf dem Berg zu treffen. Die Gedankenspiele, wie dieses Gefährt hier heraufgekommen ist (Zauberei; zerlegt und wieder zusammengesetzt; Zufall; Eiszeitleiche), vertreiben mir die Zeit beim steiler werdenden Serpentinenspaziergang. Wieder wechselt die Szenerie, die Steine werden zu Steinchen, der Himmel weißlich und Nebel setzt ein. Absolute Stille, kein Todesschrei durchdringt die immer dichter werdende Suppe. Herrlich. Ich fühle mich wie im Finale eines Blockbusters im Stil von Cliffhanger. „Sly, where are you my man?“, denke ich bei mir. Ein Schluck Wasser und ein Bissen Apfel, dann geht es schon weiter über den immer mehr mit Schnee und Eis bedeckten Weg. Ich ärgere mich, dass ich mangels Karotte keinen Schneemann bauen kann.

Die Sicht wird zusehends (haha) schlechter. Meine Hände sehe ich nur mehr, weil sie durch die Kälte knallrot leuchten, wo meine Füße sind kann ich nur erraten. Einzig meine Brille nehme ich noch deutlich wahr, vielmehr die munter wachsenden Eiskristalle auf den Gläsern. Als der Gipfel nur noch geschätzte 50 Meter entfernt ist fälle ich eine folgenschwere Entscheidung: Umkehr. Nicht wegen der Sicht (mittlerweile renne ich mir dauernd die eigenen Stöcken in den Bauch), sondern wegen der zunehmenden Zahl an Wanderern. Ich war nie ein Fan von Massenbewegungen, und dass Ben Nevis so überlaufen ist finde ich schlicht unakzeptabel.

Folgerichtig drehe ich um und mein wacher Geist hat keine Probleme, sogleich eine Selbstrechtfertigung zu ersinnen: Die wahre Leistung besteht darin, sich kurz vor dem Ziel ein neues zu stecken und das bisher Erreichte damit obsolet zu machen. Dieser Sinnspruch schallt in meinen Schädelwänden, während ich mich über Steinchen, rote und graue Steine, durch Schnee, Nebel und Regen, wieder an den Fuß des Berges begebe. Einmal mehr zeigt sich, dass der Weg hinunter gleich lang wie der Weg hinauf ist. Parallelwelten überall.

Erschöpft und durchnässt erreiche ich die Unterkunft, in der H. fernsehend auf einem Berg aus leeren rubber things Päckchen liegt. Er blickt mich unverständig an, war er doch der Meinung, ich würde die ganze Zeit bereits neben ihm sitzen und lesen. Ich verzichte auf einen Erklärungsversuch und schlage ihm wortlos mehrmals auf den Arm. Dann eine Dusche, sehr erfreulich.

Für den letzten Abend in Fort William haben wir uns etwas Besonderes überlegt: Alkohol und Karten spielen, dazu ein wenig Essen. Es ist ein würdiger Abschluss unseres Aufenthaltes im Outdoor-Ressort von Großbritannien. Morgen geht es schließlich nach Glasgow und damit in eine ungleich menschenreichere Gegend. Ich bin froh, dass H. so viele Bäume fotografiert hat, es wird uns noch eine große Hilfe sein. Im Übrigen trinkt er mittlerweile schneller und mehr Bier als ich. Ich muss wohl die Leber austauschen, und bei der Gelegenheit vielleicht gleich ein internistisches Komplettservice vornehmen. Wer sagt, man könne gute Vorsätze nur an Neujahr fassen?


Samstag, 10. April 2010

Tag 9 - von Arisaig nach Fort William

17.5.
Start: 7 Uhr/ 10 Uhr
Ende: 23 Uhr
Wetter: Sonnig, bedeckt


Scheiden tut weh, unser Abschied aus Arisaig fällt entsprechend tränenreich aus. H. weint, natürlich, aber sein Heulen klingt heute besonders herzzerreißend. Ich kann mich der feuchten Augen auch nicht verwehren, es war doch eine große Zeit voll von großen Emotionen, selbst wenn diese nur im Fernsehen abliefen. Rugby-Endspiel sag ich nur. Zudem scheint in der Umgebung gerade eine besonders aggressive Pollensorte zu blühen.

Den vermeintlich verpassten Zug (H. musste noch rubber things auftreiben) erreichen wir spielend, da er Verspätung hat. Alles hat seine Vorteile, sage ich in tiefschürfender Stimmlage. H. hört aber nicht zu, er befindet sich gerade in einem wer-blinzelt-zuerst-Duell mit einem Gummibärchen. Ich muss ihn unter seinen Schreien „Aufgeben tuat ma an Brief“ in den Waggon zerren, damit wir nicht endgültig hier im wilden Westen stranden. Noch stundenlang macht er mich für seine Niederlage im Blickwettkampf verantwortlich.

Wir kehren zurück zum Ausgangspunkt der Wanderung, Fort William. „Se outdoor…“ setzt H. an, da halte ich mir schon die Ohren zu und singe laut die Landeshymne. Unsere Beziehung steht momentan auf Taschenmessers Schneide. Versöhnlichen Tones verspricht H. mir einen Kinobesuch. Meine Zweifel, ob es hier überhaupt ein Lichtspieltheater gebe, quittiert H. mit einem „Sowieso, i kenn mi da aus“.

Einen Nachmittag später ist klar, es gibt natürlich kein Kino in Fort William, H. kennt sich natürlich nicht aus. Ich bin schwer enttäuscht, schwer wütend. Jetzt flennen wir beide. Aber insgeheim bin ich auch schwer stolz, einmal mehr Recht behalten zu haben. Als Alternativprogramm entscheiden wir uns für Bowling – eine derartige Halle steht überraschenderweise zur Verfügung. 10 Bahnen, also für jeden Einwohner zweieinhalb, das ist gelebter Sozialismus. Trotz sichtbarer Anstrengungen hat H. selbstverständlich keine Chance gegen meinen Geheimstil. Die Kugel darf nicht rollen, sie muss rutschen. Dann funktioniert das Abräumen problemlos. Mit großen Schritten und äußerst dynamisch bowlen wir in Richtung Stadtrekord, der finstere Blick des Anlagenbetreuers veranlasst uns aber dazu, dann doch mehr Splits als Strikes zu werfen. Man will ja die Gastfreundschaft nicht strapazieren.

Waren wir zu Beginn noch allein auf der Bahn, so gesellen sich zusehends Menschen zu uns. Die meisten kommen, um H. bowlen zu sehen, teils aus Bewunderung, teils zur Belustigung. Einige suchen aber auch die sportliche Herausforderung oder einen Vorwand für zwischenmenschliche Bindungsrituale. Merke: Wenn dein Gegenpart geschätzte 1.10 groß und 20 Kilogramm schwer ist, dann ist Bowling nicht unbedingt ideal für das Liebeswerben.

H. verlangt nach Essen: „Hunger“, ruft er nach jedem Wurf. Ich schließe mich an, war der Tag doch schon lang und die Anstrengung groß. Als wir die Halle verlassen begegnen wir zwei schottischen Landschönheiten, die Martha und Gwendolyn heißen müssen. H. will sie gleich ansprechen, da er meint, sie müssten ob ihrer Wohlgenährtheit genau wissen, wo er seinen Hunger endlich stillen könne. Nur schwer kann ich ihn bremsen. Aus grundsätzlicher Ablehnung von Menschen und aus schlichter Angst, von den Essensresten zwischen ihren Zähnen schwer verletzt zu werden, halte ich ihn zurück und schleife ihn zu McDonalds. Ein Restaurant mit schottischem Namen, das verspricht einheimische Köstlichkeiten bei entsprechend traditionellem Ambiente.

Die Müdigkeit der vergangenen Tage schlägt mehr und mehr durch, wir ziehen uns daher früh ins Zimmer zurück. H. findet das gut, weiß er doch um den Fernseher im Zimmer. Im Abendprogramm zeigt sich einmal mehr, dass die Schotten durchaus ein Völkchen mit Nationalstolz sind: Ein Western mit Connery läuft. Obwohl, zugegeben, vielleicht zeigt die Filmauswahl auch vielmehr, dass die Schotten über sich selbst lachen können.

H. kann es nicht. Über sich lachen. Eine launige Bemerkung meinerseits zu seiner „Diät“ bringt nur einen bösen Blick ein. Das nächste, woran ich mich erinnere ist, dass ich neben dem Bett liege. Samt der Matratze. Ich ziehe kurz in Betracht, hierzubleiben, da es sich ganz angenehm liegt, aber mein Überlebenswillen gewinnt doch die Oberhand. Behände werfe ich meinerseits H. vom Bett und entreiße ihm die Fernbedienung. Die Tür hinter mir verriegelnd flüchte ich damit ins Badezimmer. H.s Wutgeschrei ist vermutlich in der ganzen Stadt zu hören, sein Schlagen gegen die Tür hat presslufthammerartiges. Das wird eine unruhige Nacht.