Montag, 19. April 2010

Tag 10 - auf den Ben Nevis

18.5.
Start: 7 Uhr/8 Uhr
Ende: 14.30 Uhr
Wetter: Bewölkt, dann Regen

Die Tiroler Gene schlagen durch, wir müssen auf den Berg. Besser gesagt, auf DEN Berg. Ben Nevis, der höchste Hügel in ganz Großbritannien, der felsige Hauptgrund für Fort Williams Namenszusatz „Se outdoor capital…“. Tagelang haben H. und ich Karten studiert und Wegbeschreibungen verinnerlicht, damit unser Gipfelsturm durch Kleinigkeiten wie Orientierungslosigkeit nicht gestört werden kann. Zweifelsohne wird der Sieg über den Berg einer der Höhepunkte unserer Reise und damit auch der geplanten Volkshochschul-Diareihe. Doch diese meine Annahme war etwas verfrüht.

Denn kaum sind wir raus aus dem Haus und über die Hauptstraße, schon meldet sich H. bedrückt zu Wort. Er fürchte, dem Anstieg nicht gewachsen zu sein. Der von Krankheit geschwächte Körper schaffe maximal noch zehn Meter. Sein Vorschlag, gleich hier ein Basislager zu errichten und den vor uns liegenden Kreisverkehr erst morgen zu durchwandern lehne ich mit Verweis auf das unsichere Wetter ab. Also trennen wir uns. Ich geh auf den Berg, H. dem Wirt auf die Nerven.

Meinem Stolz Tribut zollend habe ich mich selbstverständlich dazu entschlossen, den Beginn des Anstieges per Fuß zu erreichen. Die wenigen Zentimeter auf der Karte entpuppen sich völlig überraschend als mehrere Kilometer Landstraße, die ich mich vollem Gepäck, Stöcken und Ungläubigkeit im Geiste abspulen muss. Wenigstens die idyllische Landschaft belohnt die wanderische Zusatzleistung, auch wenn ich keine Schafe mehr sehen kann. Ich ertappe mich dabei, mental bereits zurückzumähen und bin erleichtert, endlich den Pfad auf den Ben Nevis zu erreichen.

Steine. Viele Steine, Enorme Steinmengen. Steine soweit das Auge reicht. Der Weg ist nicht unbedingt mit Abwechslungsreichtum geschlagen, für Variationen sorgen nur die bunt gekleideten Touristen, die vor, hinter und neben mir aufsteigen. Mehr als einmal steht man vor der schwierigen Wahl, weiterzuschnaufen oder zu grüßen. Auf halber Höhe wechselt sowohl das Panorama als auch das Wetter. Die Steine sind nun rot, der Himmel nun finster und Regen setzt ein. H. fehlt mir, ich kann meine Boshaftigkeit an niemandem auslassen.

Ich gehe dennoch weiter und werde sogleich damit belohnt, zwei Straßenarbeiter samt Bagger mitten auf dem Berg zu treffen. Die Gedankenspiele, wie dieses Gefährt hier heraufgekommen ist (Zauberei; zerlegt und wieder zusammengesetzt; Zufall; Eiszeitleiche), vertreiben mir die Zeit beim steiler werdenden Serpentinenspaziergang. Wieder wechselt die Szenerie, die Steine werden zu Steinchen, der Himmel weißlich und Nebel setzt ein. Absolute Stille, kein Todesschrei durchdringt die immer dichter werdende Suppe. Herrlich. Ich fühle mich wie im Finale eines Blockbusters im Stil von Cliffhanger. „Sly, where are you my man?“, denke ich bei mir. Ein Schluck Wasser und ein Bissen Apfel, dann geht es schon weiter über den immer mehr mit Schnee und Eis bedeckten Weg. Ich ärgere mich, dass ich mangels Karotte keinen Schneemann bauen kann.

Die Sicht wird zusehends (haha) schlechter. Meine Hände sehe ich nur mehr, weil sie durch die Kälte knallrot leuchten, wo meine Füße sind kann ich nur erraten. Einzig meine Brille nehme ich noch deutlich wahr, vielmehr die munter wachsenden Eiskristalle auf den Gläsern. Als der Gipfel nur noch geschätzte 50 Meter entfernt ist fälle ich eine folgenschwere Entscheidung: Umkehr. Nicht wegen der Sicht (mittlerweile renne ich mir dauernd die eigenen Stöcken in den Bauch), sondern wegen der zunehmenden Zahl an Wanderern. Ich war nie ein Fan von Massenbewegungen, und dass Ben Nevis so überlaufen ist finde ich schlicht unakzeptabel.

Folgerichtig drehe ich um und mein wacher Geist hat keine Probleme, sogleich eine Selbstrechtfertigung zu ersinnen: Die wahre Leistung besteht darin, sich kurz vor dem Ziel ein neues zu stecken und das bisher Erreichte damit obsolet zu machen. Dieser Sinnspruch schallt in meinen Schädelwänden, während ich mich über Steinchen, rote und graue Steine, durch Schnee, Nebel und Regen, wieder an den Fuß des Berges begebe. Einmal mehr zeigt sich, dass der Weg hinunter gleich lang wie der Weg hinauf ist. Parallelwelten überall.

Erschöpft und durchnässt erreiche ich die Unterkunft, in der H. fernsehend auf einem Berg aus leeren rubber things Päckchen liegt. Er blickt mich unverständig an, war er doch der Meinung, ich würde die ganze Zeit bereits neben ihm sitzen und lesen. Ich verzichte auf einen Erklärungsversuch und schlage ihm wortlos mehrmals auf den Arm. Dann eine Dusche, sehr erfreulich.

Für den letzten Abend in Fort William haben wir uns etwas Besonderes überlegt: Alkohol und Karten spielen, dazu ein wenig Essen. Es ist ein würdiger Abschluss unseres Aufenthaltes im Outdoor-Ressort von Großbritannien. Morgen geht es schließlich nach Glasgow und damit in eine ungleich menschenreichere Gegend. Ich bin froh, dass H. so viele Bäume fotografiert hat, es wird uns noch eine große Hilfe sein. Im Übrigen trinkt er mittlerweile schneller und mehr Bier als ich. Ich muss wohl die Leber austauschen, und bei der Gelegenheit vielleicht gleich ein internistisches Komplettservice vornehmen. Wer sagt, man könne gute Vorsätze nur an Neujahr fassen?


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