






Den vermeintlich verpassten Zug (H. musste noch rubber things auftreiben) erreichen wir spielend, da er Verspätung hat. Alles hat seine Vorteile, sage ich in tiefschürfender Stimmlage. H. hört aber nicht zu, er befindet sich gerade in einem wer-blinzelt-zuerst-Duell mit einem Gummibärchen. Ich muss ihn unter seinen Schreien „Aufgeben tuat ma an Brief“ in den Waggon zerren, damit wir nicht endgültig hier im wilden Westen stranden. Noch stundenlang macht er mich für seine Niederlage im Blickwettkampf verantwortlich.
Wir kehren zurück zum Ausgangspunkt der Wanderung, Fort William. „Se outdoor…“ setzt H. an, da halte ich mir schon die Ohren zu und singe laut die Landeshymne. Unsere Beziehung steht momentan auf Taschenmessers Schneide. Versöhnlichen Tones verspricht H. mir einen Kinobesuch. Meine Zweifel, ob es hier überhaupt ein Lichtspieltheater gebe, quittiert H. mit einem „Sowieso, i kenn mi da aus“.
Einen Nachmittag später ist klar, es gibt natürlich kein Kino in Fort William, H. kennt sich natürlich nicht aus. Ich bin schwer enttäuscht, schwer wütend. Jetzt flennen wir beide. Aber insgeheim bin ich auch schwer stolz, einmal mehr Recht behalten zu haben. Als Alternativprogramm entscheiden wir uns für Bowling – eine derartige Halle steht überraschenderweise zur Verfügung. 10 Bahnen, also für jeden Einwohner zweieinhalb, das ist gelebter Sozialismus. Trotz sichtbarer Anstrengungen hat H. selbstverständlich keine Chance gegen meinen Geheimstil. Die Kugel darf nicht rollen, sie muss rutschen. Dann funktioniert das Abräumen problemlos. Mit großen Schritten und äußerst dynamisch bowlen wir in Richtung Stadtrekord, der finstere Blick des Anlagenbetreuers veranlasst uns aber dazu, dann doch mehr Splits als Strikes zu werfen. Man will ja die Gastfreundschaft nicht strapazieren.
Waren wir zu Beginn noch allein auf der Bahn, so gesellen sich zusehends Menschen zu uns. Die meisten kommen, um H. bowlen zu sehen, teils aus Bewunderung, teils zur Belustigung. Einige suchen aber auch die sportliche Herausforderung oder einen Vorwand für zwischenmenschliche Bindungsrituale. Merke: Wenn dein Gegenpart geschätzte 1.10 groß und 20 Kilogramm schwer ist, dann ist Bowling nicht unbedingt ideal für das Liebeswerben.
H. verlangt nach Essen: „Hunger“, ruft er nach jedem Wurf. Ich schließe mich an, war der Tag doch schon lang und die Anstrengung groß. Als wir die Halle verlassen begegnen wir zwei schottischen Landschönheiten, die Martha und Gwendolyn heißen müssen. H. will sie gleich ansprechen, da er meint, sie müssten ob ihrer Wohlgenährtheit genau wissen, wo er seinen Hunger endlich stillen könne. Nur schwer kann ich ihn bremsen. Aus grundsätzlicher Ablehnung von Menschen und aus schlichter Angst, von den Essensresten zwischen ihren Zähnen schwer verletzt zu werden, halte ich ihn zurück und schleife ihn zu McDonalds. Ein Restaurant mit schottischem Namen, das verspricht einheimische Köstlichkeiten bei entsprechend traditionellem Ambiente.
Die Müdigkeit der vergangenen Tage schlägt mehr und mehr durch, wir ziehen uns daher früh ins Zimmer zurück. H. findet das gut, weiß er doch um den Fernseher im Zimmer. Im Abendprogramm zeigt sich einmal mehr, dass die Schotten durchaus ein Völkchen mit Nationalstolz sind: Ein Western mit Connery läuft. Obwohl, zugegeben, vielleicht zeigt die Filmauswahl auch vielmehr, dass die Schotten über sich selbst lachen können.
H. kann es nicht. Über sich lachen. Eine launige Bemerkung meinerseits zu seiner „Diät“ bringt nur einen bösen Blick ein. Das nächste, woran ich mich erinnere ist, dass ich neben dem Bett liege. Samt der Matratze. Ich ziehe kurz in Betracht, hierzubleiben, da es sich ganz angenehm liegt, aber mein Überlebenswillen gewinnt doch die Oberhand. Behände werfe ich meinerseits H. vom Bett und entreiße ihm die Fernbedienung. Die Tür hinter mir verriegelnd flüchte ich damit ins Badezimmer. H.s Wutgeschrei ist vermutlich in der ganzen Stadt zu hören, sein Schlagen gegen die Tür hat presslufthammerartiges. Das wird eine unruhige Nacht.
Start: 7 Uhr/ 10.30 Uhr
Ende: 11 Uhr
Wetter: Sonnig, bewölkt, windig
H. miaut nur mehr. Er hält sich für geistreich und witzig, in dem er sämtliche Konversationsversuche meinerseits mit Katzenlauten zu übertönen versucht. Sein Pech, dass er nicht weiß, dass ich selbstverständlich fließend in der Sprache sämtlicher Haustiere parlieren kann. Was er als lustige Laute vermutet ist in Wahrheit das Eingeständnis von Blasenschwäche und Selbstzweifeln. Ich grinse innerlich, was die Haferflocken im Frühstücksmüsli so richtig aufkeimen lässt.
Das zweite B vom BB, das breakfast, nehmen wir unter Aufsicht von Flora, dem kaledonischen Killer-Köter, ein. Jeder Blickversuch über den eigenen Teller hinaus wird von ihr mit drohendem Knurren in seine Schranken gewiesen. H. versteht sich interessanterweise sehr gut mit Flora. Sie wirft sich bei seinem Anblick auf den Rücken und lässt sich wie verrückt kraulen. Anschließend wirft H. sich auf den Rücken und lässt sich von Flora die Wampe lecken. Kranke, kranke Welt.
Ich verlasse den Frühstücksraum verständlicherweise fluchtartig und beginne den Weg nach Morar, H. schließt sich wenig später in der Hoffnung auf ein paar exotische rubber things an. Dauernd deutet er auf seinen Mund, macht Schluckgeräusche und seufzt herzzerreißend. Mein Sinus-Rhythmus hat Mühe, den Takt zu halten.
Die Wanderung nach Morar ist unspektakulär. Beim Durchqueren eines Ur-Waldes treffen wir auf ein ebenfalls wanderndes Pärchen, welches schnellen Schrittes versucht, Meter zwischen sich und uns zu bringen. Als wir uns wieder nähern und sie H.s unverkennbare Witterung aufnehmen, können sie aus Furcht ihr Wasser nicht mehr halten, was in der gegenwärtigen Sumpflandschaft unser Fortkommen doch erheblich behindert.
Wir queren mehrere Campingplätze und einen hübschen Sandstrand, an dem die sanfte Brandung das Land leidenschaftlich umarmt, nur um es sogleich wieder freizugeben. Ein Liebesspiel der Unstetigkeit.
Laut jodelnd beginnt H. gegen den Wind zu urinieren. Er schlägt sich dabei auf sein eigenes Hinterteil und lacht dreckig. Zu wenig Irn Bru, zu wenig rubber things, die Diagnose ist eindeutig. Ich mache mir Sorgen, sind doch keine Exekutivbeamten oder Militärs in sichtbarer Nähe.
Nach diesem Schauspiel treibe ich H. an, möglichst schnell nach Morar zu kommen. Das schottische Wetter ist für seine Launenhaftigkeit bekannt und eine mehrtägige Überwinterung am Straßenrand kann nicht unser Ziel sein. Außerdem fürchte ich, doch noch von Paparazzis entdeckt und in Begleitung dieses „Menschen“ fotografiert zu werden. Das würde zweifellos auch Britneys nicht vorhandenes Höschen von jeder Titelseite verdrängen, und das kann ja nun wirklich nicht das Ziel sein.
Allein, an schnelles Fortkommen ist nicht zu denken. Wenn er nicht isst, dann photographiert H. die ganze Zeit. Er knipst buchstäblich alles, was ihm vor die Linse kommt, auch die Kamera selbst, sobald sie sich an einer glatten Oberfläche spiegelt. Er hält das für Kunst, ich stimme ihm aus Angst vor weiteren Exzessen zu. Am Weg werden wir von besoffenen Schafen belästigt, H. blökt aber heldenhaft zurück.
Morar stellt sich schließlich als verschlafener Riese vor. Die Stadt ist so enorm, dass es einen eigenen Plan gibt, um den Fahrplan am Bahnhof zu finden. Im einzigen Hotel am Platz genießen wir die heimische Küche und Alkohol zu den Klängen von Shaggy’s Oh Carolina.
Die Toilette verlasse ich hingegen verstört: Der Handtrocker hat mir garstig ins Gesicht geblasen, die Frisur ist arg angeknackst. Ich bin traurig und finde doch keine Tränen. Die Tatsache, dass mir West Coast Haddock als Fish&Chips serviert wurde (oder umgekehrt) hat nicht zum Trost beigetragen. Der Etikettenschwindel bleibt freilich ungesühnt: Danke, EU.
H.s Augen werden immer schlechter. Bei der Rückkehr in unsere Unterkunft hat er den Vermieter mit dessen Hund verwechselt und sogleich begonnen, ihn hinterm Ohr zu kraulen. Mr. MacDonald hat sich folgerichtig gleich auf den Rücken geworfen und alle Viere von sich gestreckt. Ich nehme mein Essen daher im Zimmer hinter verschlossener Türe ein. Junges Glück soll man nicht stören.