Donnerstag, 11. Februar 2010

Tag 5 - Von Drumsallie nach Strathan

13.5.

Start: 6.30 Uhr/ 9 Uhr

Ende: 20.00 Uhr

Wetter: Wolkenlos, sehr windig

Der Tag X. Judgement Day. Schon wieder. Heute geht es in die Hügel. Erstaunlich schmerzfrei wache ich auf, stelle aber fest, dass nur die Abwesenheit von Bewegung das Ausbleiben von Pein garantiert. Eine untragbare Situation. Ebenso untragbar wie der Rucksack.

Doch der Ehrgeiz wirkt. Ich rolle mich aus dem Bett und zur Morgentoilette nach draußen. Ratternd begrüßt mich der Frühzug. H. bewegt sich nicht. Ob der Blutverlust gestern doch zu viel war? Nach ein paar Aufwärm- und Dehnübungen fühle ich mich wieder wie, wie, ja wie eigentlich? Mir fehlen die Worte. H. dafür nicht, er ist mittlerweile erwacht und irrt um das Zelt herum. Halb bekleidet sucht er nach Essbarem. „Rubber things“, ruft er immer wieder mit weinerlicher Stimme, während er seinen Rucksack durchwühlt. Er hatte wohl einen Gummitraum.

Wir frühstücken Brotkrümel und ich verschütte sämtlichen Tee. Ein schlechtes Omen? Für Aberglauben hätten wir keine Muskeln frei, meint H., ich stimme ihm mit gekreuzten Fingern zu. Intensiv studiert er einstweilen die Wanderkarte und blickt dann zielsicher nach Norden. „Da geht’s weiter“. Ich fühle mich so einsam. Intellektuelle Einsiedlerei ist das.

Das Zelt ist überraschend schnell abgebrochen, „und das ohne etwas abzubrechen. Haha.“ Ich kann mir den Witz nicht verkneifen und auch H. lässt sich zu einem lockeren Lachen hinreißen. Die Band im Hirn spielt einen Tusch, die Stimmung ist gut. Wir packen alles zusammen und schultern die Rucksäcke, was der Stimmung nicht unbedingt zuträglich ist. Dann wanken wir los, über die Straße, vorbei an einem einsamen Haus und bis zu einem nicht minder einsamen Wegweiser: Stratham. Etwas unschlüssig zeigt das Schild in Richtung einer Hügelkette, die damit auch zu unserem Ziel wird.

Wir folgen dem Forstweg, als es plötzlich passiert. Menschen. Zwei davon. Auf einmal. Rüstige Herren, mit einer Miniaturausgabe einer Bergausrüstung: Rucksäckchen und Wanderstöckchen. Amateure. Verdattert erwidern wir dennoch ihren freundlichen Gruß. Dann entfernen sie sich auch schon schnellen Schrittes. „Aha“, sagt H. und kaut weiter. „Dafür bin i nit auf Urlaub gfahren, dass i nachernd Menschen seh.“ Ich kann meine Kritik nicht zurückhalten. „Naja, wenn nit mehr kommen.“ H. versucht zu retten, was zu retten ist. Ich will das Thema gar nicht vertiefen, sondern scheuche ihn auf, weiterzugehen. In spätestens zwölf Stunden droht die Nacht einzubrechen.

Wenig später erreichen wir eine Brücke, unter der ein Gebirgsbach dahinplätschert. Endlich. Unsere Wasservorräte können Auffüllung gebrauchen. H. turnt mit den Gefäßen hinunter zum Flussbett und inspiziert die Güte des Wassers. „Des schaug guat aus“, meint er, nachdem er die Flasche gegen das Licht gehalten hat.


Ich vertraue diesem Scharlatan keine Sekunde: „Dann trink amal“. H. wird blass und schluckt. Nicht das Wasser, sondern seine offensichtliche Furcht. Um seine Reputation fürchtend setzt er an und kostet vorsichtig. Ich bin zugegeben gespalten. Der Ausblick auf eine letale Reaktion im Mund von H. ist verlockend, auch weil mir dann mehr von den Vorräten bliebe. Andererseits bin ich durstig. An sich eine win-win-Situation.


Wider Erwarten steht H. noch immer und kostet. Mittlerweile literweise. Sein Körper zeigt keine Anzeichen für Krämpfe, seine Gesichtsfarbe ist unverändert dreckig rot. Wir füllen unsere Flaschen und marschieren weiter, immer tiefer hinein in die unberührte Natur. Zum Glück haben wir einen Forstweg. Prächtiges Wetter begleitet die Wanderung, die zusehends Richtung Talschluss führt. Sollte dann alles vorbei sein?



Mitnichten, etliche Pausen später erreichen wir die Gabelung, die unser Schicksal so maßgeblich bestimmen sollte. Zeit für eine Pause. Glücklich hänge ich meine Füße ins eiskalte Wasser.


Wenn jetzt weiter unten jemand davon trinkt…, denke ich und muss schmunzeln. Unerklärliche Toxine im schottischen Trinkwasser. Ob der ORF so etwas berichten würde? Immerhin sinkt damit die Wahrscheinlichkeit, dass wir von weiteren Menschen überrundet werden.


Der Weg ist aus. Urplötzlich. Unerwartet. Unerfreulich. Nur mehr sumpfige Wiesen liegen vor uns; diese aber mitnichten flach oder horizontal, sondern eher diagonal bis vertikal. H. deutet stumm genau in Richtung eines Berggrades, der nur mit viel Phantasie als überquerbar erscheint. Doch die Einsicht, dass nun das wahre Abenteuer, das straßenlose Abenteuer, das zivilisationsbefreite Abenteuer beginne, verpasst uns beiden einen kurzen Rausch fröhlicher Hormone. Endlich Männer. Tiroler, um genau zu sein. Nur wir und die Natur. Und Müsliriegel. Und Bier. Archaisch bis barbarisch, wir beginnen zu Archetypen zu mutieren. Ich verspüre den Drang, Niederwild mit bloßen Zähnen reißen und meine Zehen im Blut baden. Arrrgh. H. isst, nein frisst seine Honigriegel samt Verpackung. Arrrgh.

Entsprechend aufgeputscht beginnen wir den Aufstieg. Kein Sumpf kann uns stoppen, kein noch so tiefer Graben (geschätzte 10 bis 20cm) unseren Gipfelsturm bremsen. Allein die Realität hat scheinbar auch gut gefrühstückt und holt uns überraschend schnell wieder ein. Pause. Rast. „Basislager?“ „Nana, da mias ma scho drüber“, keucht H. Also weiter.

100 Liter Schweiß später erreiche ich etwas, das als Hochebene durchgehen kann. Wobei, Ebene ist mitunter etwas zu viel, zwei mal drei Meter erstreckt sich ein Stück flaches feuchtes Erdreich vor meinen Schuhen. Sollten wir es geschafft haben?

H. ist nicht zu sehen. Nur wenn der Wind zu stürmen aufhört, dann hört man leise Seufzer von den umliegenden Hängen widerhallen. Ein Lebenszeichen. Wenig später trifft der dazugehörige Körper auch ein.


Und wir bewegen uns doch. Zahllose Schritte lang schleppen wir uns unter gegenseitigen Beschimpfungen („Trottl“, „Depp“, „Selber“) über den Grat, und dann liegt es vor uns: ein Tal. Nein, ein hübsches Tal. Ein sehr hübsches Tal. Ohne alles. Keine Straßen, keine Leitungen, keine Wege, keine Menschen. Überaus hübsch. Wir sind versöhnt. Zumindest, bis uns die Gewissheit ereilt, dass wir erst in das wirklich ausgesprochen hübsche Tal hinunterwandern müssen.



Abwärts geht es immer leichter als aufwärts. Diese Binsenweisheit kann seit Schottland 2009 als widerlegt gelten (im Übrigen auch wie „aufwärts geht es immer leichter als abwärts“ – jede Richtung ist zum Vergessen). Stockeinsatz, Schritt, kurz schwanken, das Knie bis zum Anschlag belasten – und dann der nächste Schritt. Nie ist eine Rodel da, wenn man eine braucht. Kommt auf die Liste für das nächste Mal, ebenso wie das Ruderboot. So wackeln wir also per pedes hinunter, in Erfüllung einer Verkörperung absurden Theaters. „Zersch aui, nachernd oi, lei damits nochand wida aui geht“, philosophiere ich kopfschüttelnd vor mich hin und kann gerade noch einen Sturz vermeiden. Gut, nicht denken, nicht reden, das Blut muss den Beinen vorbehalten bleiben.

Ein Vorteil des Abstieges ist allerdings unbestritten: Es geht schneller, besonders mit Gepäck am Rücken. Ergo erreichen wir die Bachgabelung auf der Talsohle relativ flott. Ein herrlicher Ort. Wasser fassen. Karte studieren. Fluchen. Essen. Fluchen. Während H. mit triefenden Lefzen und gezücktem Taschenmesser ein Reh beobachtet, das vor uns Reißaus nimmt, erspähe ich die nächste Station unserer Reise: „Schaug, tree on a rock“ rufe ich und deute einen Hang hinauf. Bereits Stunden zuvor waren wir bei einem ähnlichen Gebilde vorbeigekommen, was als markante Markierung der Reiseroute in unserem Führer vermerkt war. Allein, es scheint eine botanische Natürlichkeit zu sein, dass in Schottland Bäume auf Felsen wachsen. Nur auf Felsen. Ausschließlich. H. widmet meiner Entdeckung daher nur wenig Beachtung, und kümmert sich mehr um die Speichelflecken, die auf seinem Hemd ein harmonisches Zusammenspiel mit den Schweißtropfen bilden. Designed by nature. Dolce&H. für echte Männer.

Unbeeindruckt von seiner gewohnten Ignoranz stelle ich wenig später befriedigt, dass der neueste tree on a rock tatsächlich the one and only tree on a rock ist. Unter uns gurgelt der Bach in mehreren Kaskaden das Tal hinunter, wir steigen derweil den Hang hinan (a tribute to Rudi). Das Gefälle nimmt an Prozent deutlich zu – gehen mehr als 360 Grad? Es scheint ja. Auf allen Vieren ziehen wir uns am Sumpfgras Zentimeter um Zentimeter nach oben, der Rucksack (und das Bier!) stets über dem Abgrund baumelnd. Ein Kick der besonderen Art. H. ruft die ganze Zeit etwas von fence posts, doch das Heulen der Winde in dieser Höhe beraubt seine ohnehin dürftige Aussprache jeglicher Verständlichkeit. Ich deute ihm den Vogel und steige weiter.

Endlich oben: So muss sich Reinhold Messner am Mount Everest gefühlt haben. Hinter mir geht es hundert Meter hinunter, und vor mir geht es zweihundert Meter hinunter. Dazwischen ein schmaler Grat, jenem zwischen Genie und Wahnsinn nicht unähnlich.


Das Bergpanorama ringsum entschädigt, für irgendwas zumindest. H. ist etwas außer Atem und fällt halb besinnungslos ins Sumpfgras. Das entschädigt zusätzlich.



Dank des hervorragenden Wetters können wir bereits das Ziel der Etappe (und aller Träume) erblicken: Stratham. Ein Lagerhaus und ein Lagerhäuschen, dazu etwas Zaun.



Wenn die Schotten sonst geizig sind, an Ortsnamen sparen sie nicht. Auch an Wasser gibt es im Überfluss, wie unsere Schuhe augenblicklich feststellen müssen. Wenige Meter vom Grat entfernt löst sich dann auch das Rätsel der fence posts. Mehrere Eisenpfosten, die im Wanderführer als Markierung genannt waren, rosten gemütlich vor sich hin. Lebhaft diskutieren wir sogleich, wen der Autoren des nun mehrmals erwähnten Buches wir als erstes hier pfählen sollten, Phil oder Dennis. Während ich für eine alphabetische Massakrierung eintrete spricht sich H. für eine Simultan-Gewalttat aus. Damit kann ich auch gut leben.

Der Abstieg erweist sich als durchaus fordernd, wir verbrauchen Muskeln, Bänder, Sehnen und Nerven zuhauf. Zudem scheint unterirdisch jemand permanent das Tal abzusenken, da wir nicht und nicht am Boden angelangen.



Doch plötzlich sind wir dann da und fertig, quasi schon am Ziel. Nur noch eine Holzbrücke trennt uns vom sicheren Lagerplatz, was angesichts der versinkenden Sonne zeitlich gesehen positiv ist.

Allein einen Ort für das Zelt zu finden ist schwerer als gedacht. Zu hart, zu weich, zu nass, zu schief, jedes mögliche Fleckchen Erde hat Nachteile. „Sollma doch no weitergehn?“, fragt H. etwas ratlos. Der kurz auflodernde Hass in unseren wechselseitigen Blicken macht klar, wir nehmen den schiefen Platz.



H. schläft eingerollt im Fußbereich des Zelts, ich halte mich mit den Zähnen an einer Querverstrebung fest, an denen der Sturm heftigst zerrt. Schon schlaftrunken fantasiert H. im leicht windschiefen Zelt von Nutten, die als Herdentiere über die saftigen Weiden Schottlands wogen würden. Nackt natürlich. Dazu isst er Tuc-Cracker und bröselt auf seine Schlafmatte. Auf meine auch. Kollateralbrösel sozusagen. Ein Traumurlaub.

Nach zwei Tagen ist Zeit, Bilanz zu ziehen: Sechs Menschen sind uns bisher begegnet, keines dieser Erlebnisse hat mein Leben nachhaltig verändert. Ich sehe mich in der Überzeugung bestätigt, dass soziale Kontakte mehr Last denn Gewinn sind. Das Guiness ist deutlich mehr Belohnung. Jedes Promille wiegt jedes Gramm mehr als auf.


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