Freitag, 29. Januar 2010

Tag 4 - Von Fort William ins Ungewisse

12.5.
Start: 6.30 Uhr/ 8 Uhr
Ende: 21.00 Uhr
Wetter: Sehr sonnig, etwas Wind

Der Tag X. Judgement Day. Ein 4. Juli am 12. Mai. The beginning of all things. Neujahr im Frühling. Aufbruch.

Unter dem wohlwollenden Auge einer von Wolken gänzlich unbelästigten Sonne marschieren wir zum Frühstück. Noch einmal ausgiebig Nahrung aufnehmen, ja aufsaugen (vor allem das eingeweichte Müsli), um alle Körperreservoirs bis zum Rand zu füllen. Wer weiß, wann wir wieder normales Essen auf einem Stuhl sitzend und aus einem Teller löffelnd konsumieren können. Die Augen werden einem feucht bei solchen Gedanken, jeder Lichtschalter, jeder Wasserhahn und jedes Möbelstück sind nun Symbol einer gediehenen Zivilisation, die der Natur so vieles hat abringen müssen.

All dies lassen wir hinter uns. Mit bis zum Bersten gefüllten Rucksäcken wanken H. und ich Punkt 7 Uhr (10.30) die ersten Meter Richtung Fähre hinab. „Sind sie zu schwer, sind sie zu schwer“, ein Mantra ohne weitere Konsequenz. Alternativen gibt es nicht, da hilft kein Murren und kein Jammern. Schweißgebadet erreichen wir die Anlegestelle und sehen erfreut, dass unser Trip doch keine Massenveranstaltung sein dürfte. Außer uns sind genau null Menschen gekommen, den Meeresarm zu überqueren. Mehr Platz an Deck und kein Kampf um die Rettungsringe im Fall der Fälle, schon lichtet sich die Stimmung.

Die Überfahrt verläuft unspektakulär. Den Kopf kühn gen den Fahrtwind gewandt mustere ich die gegenüberliegende Küste, die jetzt schnell näher kommt. H. klammert sich etwas angstvoll an seine Kamera und drückt permanent ab. Er hat sich kaum unter Kontrolle. Aber die Erinnerungen werden es ihm danken.


Nach fünf Minuten Bootsfahrt und dreißig Minuten Anlegemanöver sind wir am Ziel angekommen: Dem Beginn der Marschroute. Die Besatzung versichert uns noch, dass ein Panther im Gebiet unterwegs sei und Touristen fresse, was wir mit stoischem Blick und sehnsüchtigem Gedanken an den Patronengurt zur Kenntnis nehmen. Dann legen sie ab und entfernen sich rasch vom Ufer. Wir sind allein.

Erste Aufgabe: Pause. Dann eincremen, gegen die unerbittliche schottische Sonne. Sie ist ja gänzlich anders als die englische, französische oder gar österreichische Sonne, dieser Feuerball der Highlands versengt erbarmungslos das schüttere Sumpfgras und die Leiber der ausgemergelten Schafe. Anders ausgedrückt, es ist gar nicht so kalt. H. besteht darauf, ein Vorher-Bild für den Vergleich mit dem Ende der Reise zu knipsen, ich bin nicht willens, meine Energie schon hier zu verbrauchen und willige daher ein. Etliche Posen später wird es dann wirklich ernst: Zuerst rechts, dann links, dann wieder rechts und erneut links, Schritt für Schritt ins Unbekannte. Schon liegen die ersten Meter der Reise hinter uns, stolz blicken wir zurück auf die bereits bewältigte Strecke.

„Hunger“, sagt H. und deutet abwechselnd auf Mund und Bauch. „Auto“, sage ich und springe gerade noch rechtzeitig zur Seite, bevor ein Kipplaster laut donnernd an uns vorbeizieht. Etwas verdutzt blicken wir uns an, H. zeigt immer noch auf seinen Bauch. Das nächste Auto fährt vorbei. Wir machen Rast.


Das Procedere bleibt in den folgenden Stunden dasselbe. Hunger. Auto. Pause. Auto. Hunger. Auto. Rast. Dabei wiederholen sich Fahrer und Fahrzeug mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit, es muss ein eigener Beruf sein in Schottland, nur an einer entlegenen Straße entlangzufahren.
Abwechselnd fluchen wir ob der Last am Rücken. „Ab dem dritten Tag wird es besser“, sagt H. entmutigend. „Ab dem dritten Tag sind alle Nervenenden hin“, entgegne ich entmutigend. Der Versuch, bei einer Telefonzelle ein Taxi oder einen Gnadenschuss zu bestellen, misslingt. Wir haben keine Wahl, keine Vorwahl von Fort William. Ein Gespräch kommt daher nicht zustande.


Rund acht Stunden (Nettogehzeit 35 Minuten) marschieren wir am Ufer des Loch Eil, das Ziel, sein Ende, immer im Auge. Gegen 17 Uhr rückt dieses dann schließlich in reale Nähe. Nach kurzer intensiver Suche finden wir einen passenden Zeltplatz, direkt an der Kreuzung von der Straße und der Bahnstrecke, am Ufer eines fröhlich gluckernden Baches. H. leitet die Operation Zeltaufbau ebenso umsichtig wie erbarmungslos. Er zeigt einen eisernen Willen, sich die Natur hier Untertan zu machen, ohne Rücksicht treibt er die Heringe mit dem überlebensgroßen Hammer in den schuldlosen Boden.


Es folgt die Essenszeit. Während ich noch etwas dem Plätschern des Wassers und dem Rauschen des Regionalzuges lausche macht H. Feuer. Und schon ist angerichtet. Nudeln mit Tomatensoße. Ein Festessen. Dazu ein Guiness. Unvergleichlich, nicht der Geschmack, sondern der Gedanke, dass morgen eine Dose weniger den Rucksack zu Boden zerrt. Da beginnt der Urlaub.

H. beginnt sich zu Kratzen und starrt auf seinen Arm. „Zecken“, ruft er, doch es ist zu spät. Die Blutsauger fallen über ihn her, während ich noch in Ruhe meine Nudeln schlürfe. Innerhalb kürzester Zeit ist sein Körper dermaßen von den Insekten bedeckt, dass die Zecken, die ihn beißen, schon von anderen Zecken gebissen werden, weil diese sonst keinen Platz mehr finden. Wimmernd windet er sich und hüpft durch das Sumpfgras, reißt sich die Kleider vom Leib und stürzt ins Zelt. Ich trinke aus und folge, während die Sonne kitschig hinterm Horizont verschwindet. „Morgen sind die Schmerzen weg“, murmelt H. halb blutarm und halb schlaftrunken. „Nur wenn wir die Nacht nicht überleben“, sag ich. Nacht.


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